Wir brauchen eine neue Zukunftsvision
- floriankeller4
- 15. Okt. 2024
- 3 Min. Lesezeit
IIn der Geschichtswissenschaft spricht man gerne von Epochen. Die Schwierigkeit ist dabei jeweils zu definieren, wann eine Epoche begonnen und wann sie zu Ende ging. Dies ist meist erst mit einiger Distanz möglich und gerne spielen Kriege als Zäsur eine Rolle. So dauert das «lange 19. Jahrhundert» zum Beispiel bis zum 1. Weltkrieg und dem Zusammenbruch der grossen Monarchien Europa. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele die Invasion Russlands in der Ukraine als Zäsur von epochalem Charakter sehen. Dem Ende der "Epoche des Westens". Aber ist das wirklich richtig?
Nicht erst seit der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in der Ukraine und der halbherzigen Reaktion des Westens stellt sich die Frage ob der Westen in der Krise ist. Viele Zeichen deuten in diese Richtung. In den USA ist Trump ununterbrochen daran zu predigen, dass er in einem «failed state» lebe. Und auch seine Gegenspielerin spricht lieber über das, was sie in Zukunft erreichen möchte, als über das, was in den letzten Jahren passiert ist. In Europa gewinnen Parteien der extremen Rechte weiter an Einfluss, in dem auch sie ein negatives Bild der Situation Europas zeichnen. Sowohl in den USA als auch in Europa ist die Migration ein Gewinnerthema für die Rechten. Andere beklagen, dass der Westen nicht zu einer entschiedenen Reaktion gegenüber Russland fähig ist, wobei schon lange klar ist, dass sich Moskau aktiv in unsere Wahlkämpfe einmischt, versucht Dissens zu streuen und den Westen zu schwächen. China wird zum bald unbezwingbaren Giganten hoch stilisiert, in dem dank zentraler Planung alles besser läuft, schneller umgesetzt wird und strategischer von statten geht.
Aber schauen wir die aktuelle Situation doch mal genauer an. Zwar stimmt es, dass das Wirtschafswachstum gerade in Europa ins Stocken geraten ist und dringend neue Impulse braucht. Aber hatten wir als Bürger schon jemals so viel Geld zur Verfügung? Die Arbeitslosigkeit ist in ganz Europa auf einem Tiefststand oder besser: Wir haben vielerorts Vollbeschäftigung. In den meisten europäischen Staaten und auch in der USA kennen zwei Generationen keinen Krieg in ihrer Heimat mehr. Wir leben länger und länger gesund. Und entgegen den Klagen sind unsere Strassen in den letzten 10 Jahren nicht gefährlicher, sonderen sicherer geworden, dies kann man aus dem European Krime Index lesen. Wenn es uns faktisch so gut geht, warum wollen wir denn das nicht glauben?
Die erste Erklärung liegt auf der Hand: Wir sind vergesslich. In unserer Erinnerung verschwimmt das Bild der Vergangenheit in impressionistischen Tönen. Wir haben eine Tendenz negative Punkte zu verdrängen und positive zu überhöhen. Das führt dann zum bekannten «Früher war alles besser»-Syndrom. Eine zweite Erklärung liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Wir haben keine gemeinsame positive Vision der Zukunft. Befassen wir uns mit der Zukunft hören wir nur, was alles passieren könnte oder wird: Klimawandel mit den dazugehörigen Wetterkatastrophen und ganzen Völkern, die ihre Lebensgrundlage verlieren. Künstliche Intelligenz, die uns entweder überflüssig macht oder ganz auslöscht. Kriege mit autoritären Herrschern, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Oder ganze einfach das Ende des Westens. Und da wundern wir uns, dass das Bild einer verklärten Vergangenheit bei den Wählern besser verfängt?
Frühere Generationen wurden angetrieben durch die Vision von Überwindung des Hungers, Sicherung des Frieden, von technologischem Fortschritt und vor allem der Erlangung individuellen Wohlstandes: Ein eigenes Auto haben, sich Ferien in der Sonne leisten können, im eigenes Haus leben können, die neusten technologischen Gadgets zu besitzen oder mit der Luxustasche beeindrucken zu können – das hat Leute angetrieben. Doch all das ist heute in Verruf geraten, sei es wegen des damit verbundenen CO2-Ausstosses, Platzverbrauch oder überhaupt der Skepsis gegenüber dem Konsum. Die einzige Partei, die eine eigentliche Zukunftsvision heute präsentiert, sind die Grünen. Auf einen Satz zusammengefasst heisst sie: Weniger ist mehr und alles nachhaltig für die Umwelt. Sie bringt weder neuen Frieden oder Wohlstand noch neue Sicherheit, sondern nur Verzicht, Kosten und Genügsamkeit. Diese Vision verfängt in grossen Teilen der Bevölkerung nicht. Auch wenn der Kampf gegen den Klimawandel ein Gebot der Stunde ist, zu begeistern vermag er kaum. Der Rest der Parteien macht gerne auf «zurück in die Vergangenheit». Auch das regt wenig zum Träumen an, da wir ja da schon waren und auch hier kein Fortschritt ersichtlich ist.
Will der Westen seine Bevölkerung wieder für sich gewinnen, braucht es eine neue positive Zukunftsvision. Etwas wofür es sich lohnt aufzustehen – etwas wovon wir zu träumen wagen.
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